
Denn genau das ist,Herbert Renz-Polster: Kinderarzt. Ich kannte seinen Blog „kinder-verstehen“ bereits und habe den euch auch schon mal empfohlen. Und bei fast allen Fragen, die ich zwischenzeitlich hier rund um „Warum zur Hölle ist Merle grad so und so, ist das normal und was kann ich tun?“, bin ich über kurz oder lang auf Artikel von ihm gestoßen. Und die waren so gut, dass ich irgendwann direkt „Renz Polster“ mit in meine google Suchanfragen geschrieben habe. Kann ich ebenfalls empfehlen. Man bekommt sinnvollere Treffer und nicht nur kilometerweise Forengescrolle…
Da dem so war, habe ich mir dann „Kinder verstehen“ des guten Mannes zugelegt. Außerdem hatten viele von euch es mir wiederholt empfohlen, da war der Kauf dann klar.
Ui und was für ein Brocken! Damit hatte ich nicht gerechnet, mit so einem Wälzer! Aber: Tatsächlich, so viele Seiten müssen auch sein. Ich bin sehr begeistert und anders als bei „artgerecht“ und „geborgen wachsen“, welche ich euch letztens schon vorgestellt habe, ist hier wenig Redundanz mit den vorangegangenen Büchern, trotz vieler gemeinsamer Themen (was logisch ist, letztlich geht es eben immer um das Leben mit und das Aufziehen von Babys). Renz-Polster ist vielmehr auch Quelle für die erste genannten Autorinnen, was für mich dann ein weitere Kaufkriterium war. Ein Weiterleseargument, trotz des wie gesagt für mich gerade aktuell mit sehr begrenzten Zeitressourcen etwas abschreckenden Umfangs, war einfach die Intelligenz, die sich aus jeder Zeile herauslesen konnte. Noch lieber als als Kidnerarzt hätte ich herrn Renz-Polster als Verwandten, auf den man sich freut, weil man bei den großen Familienfeiern mit ihm einfach geniale Gespräche führen kann.
Durch die Augen der Evolution
Ich bin also sehr begeistert. Und erleichtert. Denn ich bin wieder gut abgeholt worden, teils freigesprochen von Problemen, bei denen ich einfach nicht mehr weiter wusste (Stichwort Dreimonatskoliken) und ich mag es sowieso, wenn man mich logisch an ein Thema heranführt. Da Renz-Polster evolutionsbiologisch argumentiert, steht er dem „artgerecht“ Ansatz somit sehr nahe bzw. umgekehrt. Ebenfalls etwas, was ich an beiden Büchern schätze, ist, dass ich mich als Mutter, wir uns als Eltern gut aufgehoben fühlen bei Themen, bei denen einfach klar ist: Evolution gut und schön, aber wir leben nicht mehr in Höhlen und wollen dahin auch nicht zurück. Wir müssen arbeiten gehen und oft leben die Großeltern mehre hundert Kilometer entfernt. Da sehen dann manche Themen evolutionsbiologisch noch so logisch aus, das, was wir heute daraus dann machen müssen, ist oft ein Kompromiss, denn einen eigenen Clan erschafft man nicht über Nacht. Und da geht es Renz-Polster eben darum, dass der Alltag so odern er eben nun ist, für alle Beteiligten so gut wie möglich machbar ist – was immer ein Kompromiss ist. Ziel ist ein Baby, das weiterhin artgerecht, geborgen und sicher gebunden aufwachsen kann und Eltern, die nicht im Stehen einschlafen (oder schlimmeres…). Mal klappt das besser, mal schlechter. Und dass das selbst unter Idealbedingungen oft ein Ziehen und Zerren ist, ist ebenfalls normal, auch das wird schön deutlich.
Babys sind keine unfertigen Erwachsenen…
…sondern perfekte Babys. Und Kinder sind perfekte Kinder. Renz-Polster erklärt wunderbar, weshalb es aus evolutionsbiologischer Sicht Sinn macht, wenn Babys genau so sind, wie Babys sind. Warum Kleinkinder trotzen und warum Beikost eigentlich Bonuskost heißen sollte. Über das ganze Buch war ich voller Respekt und Bewunderung für seine Art genau so über Kinder zu schreiben: Respektvoll, fasziniert, klug und mehr als manchmal auch sehr humorvoll.

Ressourcenverteilung
Interessant und dadurch sehr lesenswert und neu fand und finde ich Renz-Polsters Ansatz, dass es beim Zusammenleben von Baby und Eltern bzw. Kind und Eltern immer um die Interessen mehrer geht. Da ist eben nicht nur das Baby, dessen Bedürfnisse durch die Eltern befriedigt werden müssen/sollen/können, da sind auch die Eltern selbst, deren Aufgabe es ist dabei mit ihren Kärften so zu haushalten, dass sie selbst dabei nicht zu kurz kommen. Evolutionsbiologisch leicht nachvollziehbar, denn wenn die Eltern nicht mehr kampffähig sind, dann sieht es auch für den Nachwuchs finster aus. Wieder einmal besonders spannend im Kontext mit der modernen Gesellschaft, in der wir nun mal leben.
Diese Ressourcenverteilung ist auch ein spannender Ansatz, um zum Beispiel die Trotzphase zu erklären, egal ob da tatsächlich Geschwisterchen nachgekommen sind, die dem Trotzkind die Ressource Mama (und damit auch die Ressource, Muttermilch, Wärme und einfach Aufmerksamkeit) streitig machen oder nicht. Aber das nur, um das Thema mal anzureißen.
Dreimonatskoliken und abendliche Schreistunde
DAS war mein „Lieblingskapitel“: Schreien. Damit habe ich das Buch begonnen, ihr könnt euch denken, weshalb. Und oh, was war ich froh, es gelesen zu haben! Ich habe zwar keinen neuen Ansatz mehr bekommen, um Merle über ihre teilweise Untröstlichkeit in diesen ersten grob 100 Lebenstagen besser hinweg zu helfen, aber ich habe gelesen, dass all das, was ich schon getan habe, was wir getan haben, im statistischen Mittel zumindest zu weniger Schreien führt und das war dann wiederum für uns als Eltern sehr tröstlich. Und so haben wir die Kleine einfach weiter getragen, getröstet, gewiegt, besungen, regelmäßig an die Luft und ins Tageslicht gebracht, generell Routinen gepflegt und viel Körpernähe gegeben. Und… sehr viel nicht gemacht. Das war vielleicht das Härteste dabei. Mit diesem Kapitel hatten wir für uns geistig eine Lösung, einen Freispruch. Wir kamen uns nicht mehr wie grobe Holzklötze vor, die einfach zu blöd sind zu verstehen, was ihr Baby braucht. Es brauchte alles und nichts. Wenn Renz-Polster denn Recht hat. Ich mag es ihm glauben. Er selbst sagt, die Thematik ist auch für Kinderärzte unbefriedigend, weil das Schreien der ersten drei Monate kaum erklärbar bleibt. Koliken sind eine Mögloche Theorie, aber noch nicht mal eine sehr plausible. Schlicht der Name „Dreimonatskoliken“ hat sich eingebürgert.


Auf Augenhöhe
Dieses Buch bekommt von mir eine große Empfehlung, auch wenn es wie die zuvor schon besprochenen Bücher „artgerecht“ und geborgen wachsen“ dieselben Themen behandelt. Es bietet eben noch etwas mehr an Themen, mehr Detailwissen und sehr schöne „Einblicke und Ausbblicke“ wie Renz-Polster sie nennt. Also ein paar Denkanstöße, die deutlich machen: Was man jetzt weiß, ist eben das, was man jetzt weiß, sich zusammengereimt hat. Ob es so stimmt? Und wenn ja, was hat das für eine Konsequenz? Keine, mehrere, widersprüchliche? Sehr spannend.
Den größten Pluspunkt bekommt er aber von mir für seine schon erwähnte so liebevolle, respektvolle und gleichzeitig humorvolle Art über Kinder zu schreiben. Wie er sagt: Es sind keine unfertigen Erwachsenen. Es sind erst mal einfach perfekte Babys und Kinder und sie haben das Rüstzeug, um genau das zu sein. Man liest seine Bewunderung für diese kleinen Geschöpfe heraus, seine Faszination. Es liest sich anders (nicht primär besser oder schlechter, einfach anders) als die Bücher von Nicola Schmidt und Susanne Mierau, welche fürsorglicher, ja eben bedürfnisorientierter und geborgener schreiben. Renz-Polster gibt wenig Alltagstipps, sondern bereitet das Hintergrundwissen so auf, dass man kein explizites „Tu dieses und jenes!“ mehr braucht, denn man kommt mit dem neuen Wissen dann selbst darauf.
In diesem Sinne: Renz-Polster ist für mich gleichauf mit Nicola Schmidt. Noch umfangreicher (dafür dauert es dann eben auch länger, bis man alles gelesen hat) und dabei nicht minder unterhaltsam. Wer bei dem Wälzer in Leseschockstarre verfällt, dem empfehle ich nach wie vor „geborgen wachsen“, das liest sich so runter. Was mir hier einige kommentiert haben, bezüglich, wer „Kinder verstehen“ gelesen hat, der brauche die anderen Bücher nicht, dem stimme ich teilweise zu. Teilweise nur deshalb, weil „Kinder verstehen“ eben genau dieser enorme Wälzer ist. Ich lese seit Wochen daran. Für erste Hilfe im Wochenbett sind die anderen Bücher bedeutend schneller und da ja jede Nacht zählt, ist das finde ich schon ein Argument, das nicht zu vernachlässigen ist. Wer sich noch schwanger vorbereiten mag, oh ja, dem empfehle ich Renz-Polster als Nummer eins.
***
Das Buch findet ihr hier bei Amazon:
Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt
Der Beitrag Heiki liest: Kinder verstehen von Herbert Renz-Polster erschien zuerst auf haselnussblond - healthy happy hair.